Was nicht passt, wird passend gemacht? Ein etwas nachdenklicher Beitrag

Veröffentlicht am 15. Juni 2024 um 00:00

Jedesmal, wenn ich von einer U-Untersuchung mit einem der Kinder nach Hause komme, bin ich nachdenklich.

Denn abgesehen davon, dass es natürlich auch immer ein bisschen aufregend ist, wenn das eigene Kind so unter die Lupe genommen wird, mache ich immer häufiger die Erfahrung, dass meine Kinder schon jetzt (!) erleben, dass das System sie gern anders hätte.

Meine Kinder sind Kindergartenkinder. Mein Sohn ist fünf, wird nach den Sommerferien also ein Vorschulkind sein, meine Tochter ist im Februar drei geworden. Ich dachte, ehrlich gesagt, immer, das Kindergartenalter sei völlig unbeschwert. Also, nicht für uns Eltern, aber eben für die Kinder ;). Ich dachte, diese Probleme, mit dem Non-Fitting, dem Nicht-Genügen und Nicht-ins-System-Passen würden erst mit der Schulzeit anfangen. Wäre schlimm genug, muss man ja ehrlicherweise sagen.

Ich war zuletzt mit meinem Sohn zur U9.

Während ich meine Tochter bei solchen Gelegenheiten eher daran hindern muss, die Hütte abzureißen, ist mein Sohn insgesamt zurückhaltend, abwartend und stellt mir viele Fragen. Beide gehen wirklich unbefangen zum Kinderarzt, zum Glück fühlen sie sich beide dort wohl. Aber während meine Tochter ohne Scheu auf die meisten Menschen zugeht und die meisten Aufgaben, die man ihr stellt, neugierig zu lösen versucht, hält mein Sohn sich eben zunächst gern im Hintergrund und reagiert regelmäßig skeptisch. Soweit so gut - finde ich. Was spricht dagegen?

Das Problem ist: Wenn es darum geht, bestimmte Handlungen auf Anweisungen auszuführen oder Tests mitzumachen, wird der Charakterzug meines Sohnes - Skepsis und zugegebenermaßen manchmal auch Sturheit- plötzlich zum Stolperstein. Denn dort, wo meine Tochter fröhlich und unbefangen mitspielt, wie wir Erwachsenen uns das vorstellen, "bockt" mein Sohn. Zumindest wird das gern so aufgefasst. Ich persönlich empfinde seine Verweigerung in den meisten dieser Situation als absolut legitim und nachvollziehbar. Denn, wie vielleicht auch schon viele von Euch erleben durften, gibt es in unserer Gesellschaft allgemein (und leider sogar beim Kinderarzt) nur noch selten Raum für ernsthafte Erklärungen oder Geduld im Umgang mit Kids.

Da wird dem Kind bei der U9 in relativ schnellem Tempo nacheinander aufgetragen,

sich auszuziehen, auf einem Bein zu stehen und zu hüpfen (dachte immer, das käme erst in der Schuleingangsuntersuchung), sich wieder anzuziehen, eine gerade Linie zu zeichnen, ein Blatt an zwei eingezeichneten Ecken abzuschneiden, eine geschwungene Linie zu zeichnen. Buchstaben werden abgefragt, dann Zahlen. Farben. Kennst du die Farbe? Diese? Gut. Weiter.

Nahtloser Übergang zum Sehtest, hat mein Sohn auch noch absolviert, Abfrage war ganz schön zackig, aber gut. Dann Hörtest. Bis hierhin hat das Kind wirklich prima mitgemacht, er lief "wie ein Uhrwerk", wie man so schön sagt. Und dann wurde er skeptisch. Er schaute die Kopfhörer an, die ihm aufgesetzt werden sollten, machte große Augen, konnte wahrscheinlich nicht ganz folgen, als die Arzthelferin ziemlich zügig erklärte, dass sie gleich Töne abspielen würde und er dann anzeigen muss, auf welchem Ohr er die wahrnimmt. Und damit war seine Motivation dahin.
Es war zuviel in dem Moment. Einfach zu viel auf einmal. Das Kind ist fünf Jahre alt! Mein Versuch, sanft einzugreifen, ihm kurz zu erklären, wofür der Test gut ist, wurde überquatscht. Das Kind schaute mich verwirrt an, mir war in dem Moment klar: Das wird nüscht mehr.

Der Kinderarzt reagierte unzufrieden, sagte, das müsse dann
nochmal anderweitig überprüft werden.

Beim HNO. Aha. Als ob das Kind in einer fremden Praxis mitmachen würde, wenn es das schon nicht beim Kinderarzt tut... Jedenfalls sei das Verhalten eher ungünstig. Dieses Bocken müsste er sich abgewöhnen, das wird nur schwieriger, wenn er in die Schule geht. Offenbar würde das Kind wohl denken, es sei "der Chef" und das würde sich im Übrigen auf jeden Lebensbereich ausweiten. Wow. Lustig. Da musste ich wirklich lachen. Denn wenn ich eines weiß, dann, dass mein Sohn ziemlich folgsam ist. Er benötigt lediglich Erklärungen, manchmal auch einen kleinen Schubs. Und manchmal, ja, da macht er tatsächlich einfach nicht mit. Da verweigert er. Das ist ein Charakterzug, und den nennt man Sturheit. Das ist eine Eigenschaft, die ihm später so manche Tür öffnen wird. Und so manche Tür wird wiederum genau dadurch für ihn fest verschlossen bleiben. Aber das wird er schon noch selbst herausfinden. Und alles, was ich tun kann, ist für ihn dasein und es ihm erklären.

Schon klar: In unserem heutigen System fehlt oft einfach auch die Zeit.

Aber das ist doch nicht das Problem meines Kindes!? Was kann denn mein Sohn dafür, dass unsere Politik unser Gesundheitssystem soweit runtergerockt hat, dass selbst beim Kinderarzt die Termine so getaktet sind, dass alles wie am Fließband ablaufen muss? Natürlich, auch die Kids müssen schon recht früh lernen, dass man sich regelmäßig anpassen muss. Ja, auch ich bin der Meinung, dass sie erleben dürfen, dass nicht immer alles fair abläuft und es auch mal Drucksituationen gibt. Aber empfinden wir als Erwachsene es nicht schon als entwürdigend und unangenehm, wie schnell und unpersönlich wir zum Beispiel beim Facharzt abgespeist werden? Ja? Kennt auch fast jeder von Euch? Aber unsere Kinder, die prügeln wir durch die U-Untersuchungen?
Irgendwas stimmt da jedenfalls nicht...

Mal ganz abgesehen davon, dass ich ziemlich cool mit der Tatsache bin,

dass mein Sohn diesen Hörtest nicht mitgemacht hat, weil ich nämlich aufgrund seiner schon frühen und sehr guten Sprachentwicklung totsicher weiß, dass er gut hört, habe ich auch einfach verstanden, dass jeglicher Zwang uns nicht weiter bringt. Bringen wir unseren Kindern nicht auch immer wieder bei, dass ihr Körper nur ihnen gehört?

Bei wirklich wichtigen Dingen, wie zum Beispiel einer notwendie Untersuchung im Krankeitsfall oder der klaren Anweisung, am Straßenrand stehen zu blieben, hören die meisten unserer Kinder ja auch aufs Wort. Und sollte das mal nicht an dem sein, würden wohl die meisten Eltern selbstverständlich ein Machtwort sprechen und das Kind in seinem eigenen Interesse"zwingen". Weil es indiskutabel und unverantwortlich wäre, ihm diese Entscheidung zu überlassen.

Es geht ja um so viel mehr als um einen versäumten Hörtest.

Da ist das Kind, das noch nicht mit 3 oder allerspätestens 4 Jahren trocken ist. Da ist das Kind, das nicht stillsitzen kann und immerzu Lärm macht und dann ist da auch noch das Kind, das nie einen Ton sagt und nicht mal von allein "Danke" sagt.

Wo also liegt nun das Problem?

Weil das Kind nicht das tut, was ihm aufgetragen wurde? Weil es nicht gehorcht?

Ich möchte keine Kinder, die mir gehorchen. Ich möchte Kinder, die kooperativ sind. Und Kooperation braucht Erklärungen. Gegenseitiges Verständnis. Möglichkeit zur Entwicklung. Oder springen wir von der sprichwörtlichen Brücke, weil andere es tun? Weil sie es uns befehlen? Natürlich nicht.
Welches Unternehmen, dessen Mitarbeiter gehorchen, jeden Tag Dienst nach Vorschrift machen und nichts hinterfragen, wird wohl erfolgreich sein? Es sind wohl eher diejenigen Unternehmen, deren Mitarbeiter kritisch hinterfragen, Fehler aufdecken und innovativ denken. Und die trotz allem verstehen, dass es Grenzen ihrer Kompetenz gibt. Und dass es Chefs geben muss, die meinetwegen auch das letzte Wort haben. Aber diese innovativen Erwachsenen werden wohl kaum durch bedingungslosen Gehorsam zu dem geworden sein, was sie sind.

Es ist traurig, dass wir ein System erschaffen,

in dem schon Kleinkinder nur aufgrund ihrer Charaktereigenschaften (nicht aufgrund von fehlender oder fehlgeleiteter Erziehung oder Vernachlässigung) negativ auffallen und als unpassend abgestempelt werden.

Und traurig ist auch, dass wir Eltern mit solchen Erwartungen, solchem Druck konfrontiert werden, wo es doch im alltäglichen Leben schon genügend Herausforderungen für uns alle gibt. Wir brauchen niemanden, der zusätzlich Druck macht. Sicher, hier und da ein guter Ratschlag, bestimmt auch mal ein wichtiger Hinweis und in manchen Familien natürlich auch (zeitweise) professionelle Unterstützung bei der Erziehung. Aber unnötige Einmischung, überzogene Erwartungshaltungen und Schuldzuweisungen an völlig normale, liebevolle und motivierte Eltern - das macht es wirklich nicht leichter.
Hand in Hand und vertrauensvoll - das wäre schön. :)

Bewertung: 5 Sterne
2 Stimmen

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.